Befreiung? Ja klar!

10. Mai 2021  International, Region

Mit einer Kundgebung am Soldatendenkmal auf dem Radolfzeller Luisenplatz
untermauerten Angehörige antifaschistischer und linker Gruppen am 8. Mai
ihre Forderung, den Jahrestag der Befreiung vom Nazi-Regime zum Feiertag
zu machen. Es gelte,endlich den Opfern angemessen und würdig zu
gedenken, betonten mehrere Redner:innen. Zugleich könne ein solcher
Gedenktag ins Gedächtnis rufen, welches Gefahrenpotenzial das Erstarken
rechter Kräfte berge. Bei der vom Kreisverband der VVN-BdA organisierten
Veranstaltung auf dem Luisenplatz sprach auch die
Linke-Bundestagskandidatin Sibylle Röth.

Ihr Redebeitrag im Wortlaut:

Soll der 8 Mai als Tag der Befreiung gesetzlicher Feiertag werden?

Das komplizierte daran, einen Redebeitrag zu diesem Thema zu halten, ist vor allem Folgendes: Wo soll man vernünftige Gegenargumente herkriegen?

Der Anstoß kommt von einer Überlebenden des Nazi-Regimes.

Selbst Wolfgang Schäuble äußerte sich zur Frage, ob der 8. Mai ein Tag der Befreiung sei, mit „ja was denn sonst?“

Quer durch alle Parteien des deutschen Bundestages – mit einer wenig überraschenden Ausnahme – überwiegen die zustimmenden Stellungnahmen.

Man ist versucht zu sagen: Na dann los. Lasst uns nicht weiter debattieren, lasst es uns machen!

Damit wäre meine Rede jetzt aber zu Ende und ganz so schnell, werd ich das Mikro doch nicht wieder aus der Hand geben.

Beginnen wir also mit dem wenig überraschenden: Alexander Gauland ist gegen den Feiertag, weil er der Ambivalenz des Datums nicht gerecht würde. Er betont, dass es zwar für Viele ein Tag der Befreiung gewesen sei, aber „auch ein Tag der absoluten Niederlage, des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit.” Recht hat er: Es war die absolute Niederlage – die absolute Niederlage des NS-Regimes. Im Gegensatz zu ihm sehe ich darin keine Ambivalenz, sondern genau das ist es, was gefeiert werden soll!

Lassen wir die AfD also rechts liegen und beschäftigen wir uns mit den Einwänden, die es sonst so gibt. Denn ganz alleine ist Gauland mit seinem Schlagwort von der Ambivalenz nicht. Man findet es etwa auch auf der Seite der Bundeszentrale für Politische Bildung. Hier mahnt der Historiker Martin Sabrow „den 8. Mai allein als Tag der Befreiung zu feiern, überschreibt Ambivalenz durch Eindeutigkeit.“ Auch der Rechtsphilosoph Christian Hillgruber verweist auf die historische Ambivalenz, die durch die Deutung als Tag der Befreiung unangemessen verkürzt würde. Er warnt davor, dass durch einen solchen Feiertag „Empfindungen […] verordne[t]“, quasi ein Geschichtsbild aufoktroyiert würde. Und auch der Historiker Norbert Frei sieht diese Problematik und rät von Versuchen „unser Geschichtsbewusstsein festzuschreiben“ ab.

Was hier zum Ausdruck kommt, ist natürlich etwas ganz anderes als der Revanchismus der AfD. Hier geht es um die Sensibilität von Historiker:innen für die Perspektive der Zeitgenoss:innen und das Misstrauen gegenüber einer staatlich verordneten Gesinnungs-Gedenkkultur. Ihre Einwände bedeuten auch nicht, dass sie  automatisch gegen den 8. Mai als Feiertag sind. Sabow etwa spricht sich klar dafür aus, hält nur den Namen als Tag der Befreiung für unpassend. Denn, und dieser Punkt erscheint mir zumindest bedenkenswert, er fürchtet, dass wir uns mit dieser Benennung nachträglich als Sieger definieren würden.[6] Der Begriff, dass ist ja nicht von der Hand zu weisen, könnte die Deutung suggerieren, dass die Masse der Deutschen von einer kleinen Riege nationalsozialistischer Terrorherrscher unterdrückt, und am 8. Mai de facto befreit wurde. Dass dem nicht so war, wissen wir zu genüge. Für viele Zeitgenoss:innen, seine es überzeugte Nazis oder auch nicht, erschien der 8. Mai sicherlich nicht als Befreiung, sondern eben als Niederlage, die mit begründeten Ängsten um die eigene Zukunft verbunden war.

Die Frage ist nur, was folgt daraus für uns heute? Die Historiker:innen müssen sich von Berufswegen für die zeitgenössische Deutung interessieren. Aber müssen es die Bürger:innen auch? Liegt hier nicht eine fundamentale Verwechselung des Zugangs vor? Die historische Arbeit zielt auf das historische Phänomen 8. Mai, der Gedenktag auf eine abstrahierte symbolische Bedeutung. Das eine ist nicht das andere – wobei beides natürlich nicht völlig auseinanderlaufen sollte. Aber Gedenktage sind als solche eine gesellschaftliche Aneignung der Geschichte. Sie sind gelebte Geschichtsdeutung.

Beim Reformationstag – der ja immerhin zahlreichen Bundesländern einen Feiertag wert ist – interessiert sich kein Mensch für die historisch eventuell bedeutende Frage, ob Luther nun seine Thesen tatsächlich an diesem Tag an diese Tür genagelt hat. Es interessiert sich auch niemand dafür, wie die katholischen Zeitgenoss:innen die Reformation empfunden haben, und auch nicht für die zahlreichen Religionskriege, die darauf gefolgt sind. Das alles sind wichtige Fragen für die Historiker:innen, nur eben nicht für diejenigen, die diesen Tag als Feiertag begehen. Auch beim Tag der deutschen Einheit scheinen wir mit der staatlich verordneten Gesinnungs-Gedenkkultur deutlich weniger Probleme zu haben. Ich habe zehn Jahre lang in Ostdeutschland gelebt: ich kann versichern, das haben auch einige Zeitgenoss:innen als ambivalent empfunden. Aber obwohl hier die Menschen mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven noch nicht mehrheitlich tot sind, scheint es uns in diesem Fall nicht zu stören.

Übertragen wir das mal auf den 8. Mai: Muss ich das, wofür dieser Tag steht, die absolute Niederlage Nazi-Deutschlands als ambivalent empfinden, weil es 1945 von Vielen als ambivalent empfunden wurde? Meine Phantasie mag begrenzt sein, aber aus meiner heutigen Perspektive fällt mir ganz wenig ein, was mir weniger ambivalent erscheint, als die mögliche Haltung zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Und falls das nicht Allen so gehen sollte – wäre uns dieser Fall nicht ein wenig festgeschriebenes Geschichtsbewusstsein wert? Und wenn die Antwort Nein ist, sollten wir uns nicht nochmal über den Basiskonsens dieser Gesellschaft unterhalten? Wenn ein weiterer Historiker zu bedenken gibt: „Wer von ‚Befreiung‘ spricht, nimmt eine dezidiert antinationalsozialistische (bzw. ‚antifaschistische‘) Haltung ein und identifiziert sich mit der Verfolgtenperspektive“,[7] dann kann ich nur sagen: Ja klar! Was soll denn die Alternative sein?

Ich kann die Vergangenheit dieses Landes nicht ändern. Und ich will „die Deutschen“ sicherlich nicht im Nachhinein kollektiv zu Widerstandskämpfer:innn oder Sieger:innen erklären. Aber ich kann mich zur Vergangenheit dieses Landes verhalten und das in einem Gedenktag zum Ausdruck bringen. Wenn der 8. Mai schon für viel zu viele Zeitgenoss:innen kein Tag der Befreiung war – ich kann für unsere heutige Gesellschaft wollen, dass wir ihn als einen solchen begreifen, die Täter:innen benennen, den Opfern gedenken und die absolute Niederlage feiern. Denn unsere Solidarität gehört doch nicht der deutschen Nation – was immer das sein mag. Sie gehört den Menschen, die in der Vergangenheit unsägliches Unrecht erlitten haben und denen, die wir in Gegenwart und Zukunft davor bewahren wollen, dass sich Ähnliches wiederholt. Der 8. Mai als Tag der Befreiung wäre doch kein Tag des nachträglich geschichtsvergessenen und selbstzufriedenen Siegesrauschs. Es wäre der Tag des Nie wieder: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Wollen wir das in unserer Gedenkkultur verankern? Allerdings, das wollen wir!

Sibylle Röth (Bilder: J. Geiger)

 


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