Am vergangenen Dienstag luden Sibylle Röth, Kandidatin der Linken im Kreis Konstanz für die bevorstehende Bundestagswahl, und Susanne Ferschl, Mitglied des Bundestags, nach Singen zu einem Podiumsgespräch ein, das sich dem Thema „Prekäre Beschäftigung, Tarifflucht und innerbetriebliche Mitbestimmung“ widmen sollte. Sachverständige Mitdiskutanten fanden sie dabei in drei Gewerkschaftssekretären mit unterschiedlichen Schwerpunkten ihrer Arbeit: Neben Markus Klemt (ver.di, Villingen), der für den Bereich Handel und Einzelhandel tätigt ist, nahmen Christian Trompeter (NGG BW-Süd, Singen) und Thomas Weisz (ver.di, Konstanz) Teil. Befasst sich ersterer mit dem Bereich des Hotel- und Gaststättengewerbes, widmet sich zweiterer dem Themenbereich des Sozial- und Gesundheitswesen, der Wohlfahrt und der kirchlichen Träger.
Nach einer kurzen Einführung durch Sibylle Röth verwies Susanne Ferschl auf die grundlegende Problematik des Niedriglohnsektors, die letztlich die ganze Diskussion begleitete. Die Arbeitsbedingung diesen Sektors nähmen sich alles andere als gut aus: Durch die Prekarität ihrer Anstellung könnten die Mitarbeiter beständig ihre Stelle verlieren oder versetzt werden. Neben dieser Unsicherheit seien diese Jobs durch geringe Löhne und noch zusätzlich von einer schlechten sozialen und rechtlichen Absicherung gekennzeichnet. Gerade weil der Niedriglohnsektor in Deutschland so immense Ausmaße angenommen habe, wirke sich dessen mangelndes Lohnniveau und die fehlenden Sozialabgaben langfristig auf die Finanzierung des Sozialstaats bis hin zum Rentensystem aus. Die schlechten Löhne schlechter Arbeit führten zu schlechten Renten, die dann wiederum durch die Solidargemeinschaft aufgefangen werden müssten.

Die Coronokrise habe gezeigt, in welchem Maße diese Anstellungen unsicher sind: Nicht nur wurde eine unzählige Anzahl von Menschen entlassen, die dann ins Nichts fielen, auch diejenigen, die Kurzarbeitergeld erhielten, konnten aufgrund ihrer niedrigen Löhne, die als Grundlage der Berechnung dienen, von dieser Unterstützung nicht leben. Wie Christian Trompeter später anfügte, hätten viele Mitarbeiter das Gastrobetriebe verlassen müssen, weil das Kurzarbeitergeld eben nicht reichte: Auch wenn diese Betriebe jetzt wieder offen seien, kämen die Mitarbeiter:innen allerdings nicht zurück, was sich sich im anhaltenden Personalmangel zeige und wiederum zur Belastung der anderen Angestellten führe.
Die drei Formen der prekären Beschäftigung, also Leiharbeit, Teilzeit und Minijobs, eine nach Ferschl, dass sie die Angestellten weder wirksam vor Ausnutzung schützten noch langfristig Wege in reguläre, entfristetet und voll-zeitliche Jobs ebneten. Die Leiharbeit, eigentlich gedacht zum Abfangen unerwarteter Produktionsspitzen, habe sich zu einer Struktur verfestigt, die den Unternehmer:innen als Mittel zum Lohndumping diene. Die Prekarität des Jobs führe aber dazu, dass diesen Beschäftigten weder eine sorgenfreie und langfristige Familienplanung noch soziales oder politisches Engagements möglich sei bis hin dazu, dass sie nicht einfach eine Wohnung finden könnten. Auch die Minijobs würden eher von Studierenden, Rentner:innen und Aufstocker:innen zur Existenzsicherung ergriffen werden als dass Einzelne diesen Jobs zum Vergnügen nachgingen. Hier wie im Falle der Teilzeit reiche der Lohn zum Leben nicht, ohne dass es einen innersystemischen Ausweg gäbe. Diese verfestigten Strukturen des Niedriglohnsektors machten zugleich die gewerkschaftliche Organisation schwierig, da sie die Beschäftigten vereinzelt und von denen im Unternehmen angestellten Mitarbeiter:innen trennt. So werden die Beschäftigten in Konkurrenzverhältnisse gesetzt, die ihr solidarisches Zusammenstehen in Arbeitskämpfen zusätzlich erschwert.

Der Mindestlohn sei folglich nur ein Weg in die richtige Richtung, zumal er noch deutlich erhöht werden müsse: Gute Löhne seien aber durch allgemein verbindliche und anerkannte Tarifverträge festzulegen. Der Abnahme der Tarifbindung müsse deswegen auch politisch begegnet werden. Nicht nur gelte, der sachgrundlosen Befristung einen Riegel vorzuschieben, auch müsse zur Stärkung der Tarifbindung die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge erleichtert werden. Zudem müsse der Bund ein Tariftreuegesetz beschließen, was die Vergabe von öffentlichen Aufträgen an die Tarifbindung der Unternehmen knüpfe, und die Tarifflucht durch OT-Mitgliedschaften, also ohne-Tarifbindung, eingeschränkt werden.
Markus Klemt von ver.di wies darauf hin, dass unser Konsumverhalten direkte Auswirkung auf die Beschäftigten des Einzelhandels habe: Der Anspruch, immer und überall einkaufen zu können, hätte für diese weiterreichende Kosten, wie eine Auflösung der Alltagswelt und des Freundeskreises durch die Schichten und die Wochenendarbeit. Auch die politische und soziale Beteiligung sowie die kulturellen bis hin zur sportlichen Aktivitäten würden limitiert. Letztlich litte darunter wiederum die Gesundheit des Einzelnen.

Die geringe Bezahlung im Einzelhandel infolge der Teilzeitbeschäftigung träfe in der Hauptsache Frauen, die entgegen ihrem Willen eben keine volle Stellen erhielten. Zugleich würden die wirtschaftlichen Anforderungen an Flexibilität die Lebensplanung des und der Einzelnen verunmöglichen. Zugleich würden, wiederum zumeist Frauen, mit der Erwartung von Freizeitarbeit konfrontiert, wobei der Zwang infolge der Prekarität des Jobs stets mitschwinge. Durch diese dauernde Befristung ist weder ein Arbeitskampf noch die Organisation oder die Einforderung der eigenen Rechte möglich, was von der Ablehnung von Überstunden bis hin zum Arbeitsschutz und dem Krankmelden reicht.
Das solche Formen der Arbeit langfristig auf die Kosten der Angestellten gehen, sei offenkundig: Große Unternehmen trügen ihre Konkurrenz um billige Preise auf dem Rücken der Angestellten aus, ohne bislang von Politik an dieser Praxis gehindert zu werden. Wenn ein Unternehmen wie Edeka Baur 30% unter Tarifniveau bezahlt, dann zahlen die Schnäppchen die Angestellten. Am Ende aber wir alle, da so kein Geld in die Sozial-, Kranken- und Rentenkassen käme.

Christian Trompeter wies auf die Situation der Branche des Hotel- und Gaststättengewerbes infolge der Pandemie hin. Gerade die Angestellten dieses Wirtschaftsbereichs wären häufig von Kündigungen und Kurzarbeitsgeldern betroffen, die nicht zum Leben reichten. Daneben bestehe zwar ein allgemeinverbindlicher Manteltarifvertrag, dieser finde aber in der Praxis kaum Anwendung. Die Beschäftigten wüssten demnach nicht über ihre Ansprüche an Urlaubstagen oder ihre Rechte in Krankheitsfällen Bescheid. Diesem eingelebten Ethos und der scheinbaren Unreguliertheit müsse entgegengewirkt werden, ein Mentalitätswandel sei auf allen Seiten geboten: Auch wenn diese Jobs ihren Charakter eines untypischen Beschäftigung behielten, hätten die Angestellten Rechte und Ansprüche, dessen Einforderung selbstverständlich seien müsste. Zugleich führe auch in dieser Branche die umfassende Befristung der Anstellungen zu Problemen der gewerkschaftliche Organisation und zur Scheu vor der Geltendmachung rechtlicher Ansprüche: Die Folgen sind neben einer schlechten Bezahlung auch gesundheitliche Belastungen und ein geringer Grad an innerbetrieblicher Mitbestimmung.
Thomas Weisz, zuständig für den Bereich Sozial- und Gesundheitswesen, Wohlfahrt und Kirchen, bemängelte die Ökonomisierung der Altenpflege in den 90er Jahren durch die Einführung der Pflegeversicherung. Durch die erhöhte Lebenserwartung und den Rückzug der öffentlichen Hand wurde dem privaten Sektor ein breiter Raum eröffnet, ohne zugleich die Austragung der Konkurrenz auf dem Rücken der Pflegebedürftigen Personen und Mitarbeitenden vorab zu verhindern. Der Manteltarifvertrag, der gerade den privaten Sektor regulieren sollte, wurde durch den Widerstand der kirchlichen Träger verhindert, da sich diese durch deren im Vergleich bessere Bezahlung Vorteile in der Personalakquise versprachen. So hielten die Defizite an Tarifbindung in diesem Bereich an: Eine Folge ist der Personalmangel, der aber nicht aus einem Fehlen der Fachkräfte, sondern deren Verschleiß resultiere. Nur bessere Arbeitsbedingungen können die durchschnittliche Verweildauer von sieben Jahren in diesem Beruf erhöhen. Ob die von der großen Koalition jüngst angestoßenen Reformen einen positiven Effekt haben und sich die Verpflichtung auf Tarifverträge durchsetzt, oder ob es doch zu viele Schlupflöcher gibt, würde sich erst in den Jahren erweisen. Wo immer möglich, lohne sich die Organisation und der Arbeitskampf für bessere Arbeit. Die Einforderung bedarfsgerechter Finanzierung, von Personal und Material geht einher mit dem Kampf gegen die Ökonomisierung der Gesundheit, Alten- und Krankenpflege! Menschen müssen mehr wert sein als die Profite privater Unternehmen…

Die drei Gewerkschaftler waren sich indes in ihren Forderungen an die Politik einig: Zum einen gilt es, die Erklärung von Tarifverträgen als allgemeingültig zu erleichtern. Zugleich gilt es, der Tarifflucht in Form der Mitgliedschaften ohne Tarif im Arbeitgeberverband entgegenzuwirken.
tb (Fotos: dsc)
Kommentar schreiben