
In den letzten Tagen haben sich verschiedene Veranstaltungen im Rahmen des Festivals der Solidarität daran versucht, Licht in die Frage des Zustands unserer Gegenwart gerade in Hinsicht der Verhältnisse der modernen Arbeitswelt zu bringen. Letztere wurde durch die Strukturen der Prekarisierung und Flexibilisierung nachhaltig verändert, mit teils massiven Auswirkungen auf die Menschen mit und ohne Anstellung.
Angst als politisches Instrument
Den Beginn machte ein soziologischer Einblick in das Phänomen der Prekarität, das sich einerseits im Sinne der Liberalisierung und Flexibilisierung der Anstellungsverhältnisse und der Folgen für berufliche Biographien, andererseits als fast schon anomische Disruption der sozialen Normalität verstehen lässt, in anderen Worten als Auflösung subjektiver Selbstbilder, sozialer Räume und familiärer Kontexte. Zwar müssen analytisch die prekären Arbeits- und Anstellungsverhältnisse von den Auflösungserscheinungen sozialer Lebenswelten und kollektivem Zusammenhalt geschieden werden, gleichwohl lassen sich beide Formen durchaus verkoppeln. So nehmen sich beide Aspekte als Strukturen aus, die den Menschen in Routinen des Berufs wie im Alltag im Privaten und Familiären Halt gaben: Ihre Auflösung im Zuge der neuen entgrenzten Wirtschaft hat demnach nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit der Menschen und ihre Arbeitswelt.
Der erste Aspekt zielt auf die umfassende Umstellung der Arbeitswelt letztlich als Folge der Agenda 2010 Reformen der SPD und der Grünen unter damaligen Kanzler Schröder, an deren Ende ein explodierender Niedriglohnsektor entstand. Sich als kranker Mann Europas wähnend ging die Politik deutlich auf die Wirtschaft und deren Interessen zu und nutzte zugleich den Vertrauensvorschuss der Gewerkschaften gegenüber einer sozialdemokratischen Politik und die Situation vergleichsweise hoher Arbeitslosigkeit aus, um die arbeitsmarktpolitische Deregulierung voranzutreiben und zugleich die Prinzipien im Umgang mit Arbeitslosigkeit radikal zu verschieben. Das leitende Credo war die Flexibilität, freilich einseitig zugunsten der Unternehmen: Leiharbeit, Werksverträge und Ich-AGs waren die dienlichen Strukturen im Auflösungsprozess der gewohnten unbefristeten Normalarbeitsverhältnisse. Zugleich wurde mit dem ALG I & II System ein letztlich perfides Instrumentarium geschaffen, die Angebote solidarischer Unterstützung zu minimieren und den Druck auf Arbeitssuchende zu maximieren. Dies führte nicht nur dazu, im Zweifel jedweden Job unabhängig von der Qualifizierung annehmen zu müssen, sondern auch konnte und kann heißen, die Ersparnisse naher Angehörigen aufbrauchen oder die Wohnung wechseln zu müssen. Die Kriterien des Status einer Bedarfsgemeinschaft sind dabei ebenso, arg freundlich formuliert, diskussionswürdig wie der Maßstab der Angemessenheit einer individuellen Wohn- und Mietsituation. Das Motto „Fordern statt Fördern“ hat sich zugleich tief in die normativen Fundamente unserer Kultur gefressen: Das permanente Ausgesetztsein in Verteilungskämpfe gepaart mit der öffentlichen und medialen Diffamierung arbeitsloser Personen als Schmarotzer oder ähnlichen führt in eine Abwärtsspirale, in der sich solidarische, kollektive und empathische Bezüge immer mehr auflösen. Demgemäß ist die Würde des Menschen nurmehr auf dem dünnen Papier der Verfassung ein ehernes Prinzip.
Die Spirale der Abwertung
Wichtig bei dieser Entwicklung zu verstehen ist, dass sie nicht „nur“ arbeitslose Personen anbetraf, sondern sich auch auf Beschäftigte auswirkte: Eine Befragung unter langjährig Angestellten machte deutlich, welche Folgen die Deregulierung des Arbeitsmarktes und Ermöglichung verschiedenartigster Arbeitsverhältnisse nach sich zogen. In einem Betrieb konnten unterschiedliche Anstellungsverhältnisse vorliegen, mit diversen Konditionen (Arbeitszeiten, Löhne und Kündigungsschutz u.a.). Weil die Unternehmen dies teils ausnutzen und Politik hierfür keine Maßnahmen bereithielt, führte die Konkurrenz innerhalb der Belegschaft zu Konflikten, zu Stress und Misstrauen. Im selben Schritt wurde durch die Heterogenität auch die gewerkschaftlicher Organisation erschwert, fehlt durch die Zersplitterung doch Wahrnehmung gemeinsamer Interessen. Neben diesen Prozessen wurde die Arbeit durch den technologischen Fortschritt immer intensiver und individuell fordernder: Weniger Angestellte mussten in der Folge mehr produzieren, Unachtsamkeiten hatten größere Auswirkungen, der Druck der Arbeit wuchs mit Angst davor, in das System der Arbeitsagenturen zu fallen. Die physischen und psychischen Belastungen, die somit durch verschiedene Ursachen immer mehr zunahmen, führen also auch dazu, den Kampf für gute Arbeit, das Engagement in den Betrieben, in den Gewerkschaften und Parteien zu erschweren.
Die Folgen der Individualisierung und der Ausrichtung an einem neoliberalen Zeitgeist wirken bis in das subjektive Selbstverständnis, das eigene Wertempfinden. Das eigentlich perverse Moment ist dabei, dass ein System geschaffen wurde, welches die Beschäftigten im Niedriglohnsektor mit jenen ausspielt, die allein auf staatliche Unterstützungsleistung angewiesen sind. Mit Blick auf die Ärmsten und prädeterminiert von einem durch die Öffentlichkeit suggeriertem Zerrbild eben dieser greift bei den Armen ein Absetzungsreflex ein, der sich in klassizistischen und chauvinistischen Stereotype manifestiert, und der sich zugleich reibungslos um xenophobe Narrative erweitern lässt. Selbstredend ist diese Spaltung künstlich, aber sie stabilisiert und reproduziert die beschriebene Arbeitswelt, da aus dieser Absetzung wiederum die unbedingte subjektive Bereitschaft resultiert, Jobs schlechtester Konditionen anzunehmen, nur um nicht einer oder eine jener zu werden, die ganz vom Staat abhängig sind. Das Gefühl zu vermitteln, etwas besseres zu sein, war schon je ein diskursives Mittel staatlicher Macht, und zugleich wurde es immer auf dem Rücken subalterner Minoritäten ausgetragen. Auf der anderen Seite werden die Langzeitarbeitslosen zu Parias unserer Zeit, Anteils- und Stimmenlosen, die die Gesellschaft nur im nackten Leben, der bloßen biologischen Existenz, interessiert. Das Desinteresse der Öffentlichkeit gegenüber den Folgen der momentanen Inflation für diese Menschen ist ebenso bezeichnend wie in einem erschreckenden Maße inhuman und unsolidarisch.
Das Prekarisierung der Arbeitswelt hängt folglich, auch wenn dies analytisch getrennt werden muss, mit der Prekarisierung der Sinn- und Handlungswelt der Individuen zusammen: Letztlich geht es um eine Spirale der Entwürdigung, in der die fehlende Anerkennung der Arbeit in Hinsicht der gesellschaftlichen Relevanz die Marginalisierungserfahrungen der Einzelnen befördert, und anders herum. Die momentane Besetzung der arbeitsmarktpolitischen Posten vor Augen wird sich an diesem Teufelskreis so schnell nichts ändern.
Über bewegende bewegte Bilder
Ken Loachs „Sorry me missed you“ führt diese problematische Entwicklung und seine strukturellen Ursachen klar vor Augen: In jenem Film geht um ein Paar, das weder Zeit für sich noch für die Erziehung ihrer Kinder hat, und dessen familiärer Zusammenhalt durch diese Spannungen auseinandergerissen zu werden droht. Beide Elternteile versuchen nicht nur, in der Welt zu überleben, sondern es richtig zumachen: Zum Beispiel streben beide an, ihre Arbeit auch unter den widrigen Umständen so gut wie möglich zu erfüllen, und trotz des beruflichem Stresses ihren Kindern ein vertrautes Heim und einen Schutzraum zu bieten. Sie, eine häusliche Pflegerin, verzweifelt daran, einerseits jeden Patienten sorgfältig, liebevoll und umfassend betreuen zu wollen, und andererseits dem profitorientierten Zeitmanagement und Effizienzimperativ ausgesetzt zu sein, der keine Puffer, keine Notsituationen und Umstände kennt. Er wiederum heuert als quasi-selbstständiger Paketbote an und versucht dabei der Erzählung Glauben zu schenken, dass sich Fleiß und harte Arbeit lohnt. Wie seine Frau versucht er, ein Mindestmaß an menschlicher Würde zu bewahren und klammert sich dabei an den Traum eines besseren, eines gesicherten Auskommens. (Auch dies beschreibt die veränderte Wirklichkeit der modernen Arbeitswelt: Wir wollen nicht mehr reich werden, nur die Gewissheit einer abgesicherten Existenz in minimalem Wohlstand. Auch das Versprechen der Verbesserung der sozialen Situation im Vergleich zu den Eltern hat seiner Glaubwürdigkeit eingebüßt.) Der krasse Zeit- Konkurrenzdruck, die ökonomische Abhängigkeit und unverhältnismäßige Sanktionsmittel bestimmen nicht nur seine Arbeit als Paketbote, dieser immense Stress hat notwendig Folgen für das Privatleben: Nicht nur sind beide Elternteile kaum zu hause, sie sind gestresst, abgelenkt und müde. Dies wirkt sich auch auf die Beziehung zwischen dem Ehepaar und zu ihren Kindern aus. In Zeit der Hochtechnologisierung und Digitalisierung wird die Arbeit für diese Berufsgruppen nicht weniger, sondern quantitativ und qualitativ mehr und greift selbst noch auf das Privatleben über.
Der Film zeigt die Maschinerie der kapitalistischen Ausbeutung deswegen so eindrucksvoll, weil es keine Schuldigen gibt, sondern sich alle in Strukturen verhalten und in diesen zu Opfern und simultan zu Tätern werden. In einer Welt der permanenten Gefahr, ins Haltlose abzurutschen, in einer Welt, in der das Gegenüber nur der Konkurrent ist oder jemand, der mich nur ausnutzen will, da gibt es keine Solidarität, keinen Respekt und keinen Schutz, sondern nurmehr das eigene Überleben. Aber ohne das solidarische Einstehen für einander, ohne Vertrauen und letztlich auch ohne die Hoffnung auf eine bessere Welt wird sich nichts ändern an der Misere eines Systems, das allein darauf beruht, Ängste zu schüren, Druck zu erzeugen und Menschen Zwängen und Schikanen in Verhältnissen gegenseitiger Konkurrenz auszusetzen: Ein Widerstand hiergegen kann nur dann anfangen, wenn wir verstehen, in welcher Welt wir leben, und wir Ideen und Vorstellungen entwickeln, in was für einer Welt wir leben wollen.
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